„Vom Kochtopf zum umfassenden Erlebnis“

Interview mit Cornelius Boerner, Head of Innovation, Research Consumer Goods, WMF GmbH
Die Zubereitung und den Verzehr von Speisen für den Endverbraucher zu einem besonderen Erlebnis zu machen, ist seit vielen Jahren der Anspruch von WMF. So ein Anspruch muss aber immer wieder überprüft, revidiert und neu formuliert werden. Schauen wir in die Zukunft, wird sich vor allem der Erlebnis-Aspekt wandeln. Wir müssen uns klar machen, dass wir in Zukunft nicht nur Hardware-Produkte herstellen, sondern für ein ganzheitliches Kocherlebnis Sorge tragen.

In dem Moment, in dem man sich intensiv mit Essen und Zubereitung auseinandersetzt, ist es außerdem eine Form von Selbstverwirklichung. Solche Erfahrungen verstärken die positive Bindung zum Kochen, Essen und den dazu verwendeten Werkzeugen und Geräten.

Cornelius Boerner

Muss sich der Fokus verschieben, von Nahrung und Zubereitung auf Ernährung und Erlebnis?

Ja, eine Herausforderung für die Zukunft wird sein, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen – vom Kochtopf zum Kundenerlebnis. Hierbei spielen viele Faktoren eine Rolle. Tradition und Kultur genauso wie Sinnlichkeit und Erlebnisorientierung. Aber auch Themen wie Gesundheit, Diät und persönliche Selbstoptimierung gewinnen immer stärker an Bedeutung. Das sind Tendenzen, die sich zum Teil gegenüberstehen, sich aber auch unterstützen können.

Essen ist ein Grundbedürfnis und dadurch im wahrsten Sinne des Wortes „in aller Munde“. Wie versteht WMF seine Rolle in diesem komplexen Geflecht aus psychologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen?

Die Verantwortung, die diese Rolle mit sich bringt, ist schon heute ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses der WMF. In Zukunft soll diese Kernüberzeugung, dass wir mehr Genusswerkzeuge, als Werkzeuge zur Herstellung von Nahrungsmitteln anbieten, zum umfassenden Leitmotiv werden. Ableiten lässt sich diese Schwerpunktsetzung aus einer zeitgemäßen Definition des Bedürfnisbegriffs.

Welche Bedürfnisse bestimmen denn heute die Ernährung?

Entscheidend sind nicht mehr so sehr die grundsätzlichen Bedürfnisse zur Lebenserhaltung, wie man sie aus der Bedürfnispyramide kennt. Inzwischen gibt es andere Modelle, die sehr viel näher an unserer heutigen Lebenswirklichkeit sind. Durch eine Einteilung in die drei Bedürfnis-Cluster Autonomie, Verbindung und Kompetenz lassen sich beispielsweise Anforderungen definieren, die wir mit WMF-Produkten erfüllen können. Autonomie kann gestärkt, Verbundenheit unterstützt und Kompetenz vermittelt werden. Kompetenz bedeutet in diesem Kontext etwa, dass der Kunde weiß, wie er zubereiten und sich ernähren will.

Haben, neben den konkreten Bedürfnissen, auch andere Motive einen Einfluss?

Mit Sicherheit. Über das gemeinsame Essen und die hunderttausenden Fotos auf Instagram und Co. erfährt man etwa zusätzlichen Genuss und stellt diesen auch selbst dar. In dem Moment, in dem man sich intensiv mit Essen und Zubereitung auseinandersetzt, ist es außerdem eine Form von Selbstverwirklichung. Solche Erfahrungen verstärken die positive Bindung zum Kochen, Essen und den dazu verwendeten Werkzeugen und Geräten. Aus all diesen Facetten ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für unser Unternehmen, neue Produktwelten entstehen zu lassen.

Damit einher geht auch, dass bessere Produkte alleine heute nicht mehr genügen, um jemanden vom Neukauf zu überzeugen. Erwarten die Kunden vielschichtige Gesamtlösungen?

Wir müssen uns auf jeden Fall umgewöhnen. Zukünftig werden wir nicht mehr nur ein Gerät oder einen Servicevertrag verkaufen, sondern vielleicht eine ganzheitliche Genuss- und Essens-Plattform anbieten. Mit welchen Partnern und in welcher Form die konkrete Umsetzung stattfindet, hängt schlussendlich vom jeweiligen Produkt und der Marktsituation ab. WMF legt deswegen aktuell die Grundlagen für neuartige Konzepte und Lösungen in diesem Bereich.

Richten wir den Blick noch weiter nach vorne: Was werden wir in Zukunft essen?

Es ist abzusehen, dass sich enorm viel verändern und ein breites Spektrum entstehen wird. Zum einen die sehr bewusste, lokale, authentische Erzeugung von Nahrungsmitteln, mit Nachhaltigkeit als Hauptschwerpunkt. Damit einhergehend wird es neue Möglichkeiten geben, den Herstellern dieser Produkte ganz neue Vermarktungsmöglichkeiten zu bieten. Auf der anderen Seite haben wir noch ungeahnte technische Optimierungsmöglichkeiten in der Lebensmitteltechnologie und der Agrarindustrie. Der Anbau von Obst und Gemüse in Gewächshäusern ist etwa nicht nur effizient und ganzjährig ertragreich. Durch die umfassend kontrollierbare Umgebung, kann unter perfekten Bedingungen und völlig ohne Pflanzenschutzmittel gearbeitet werden. Man kann sich gut vorstellen, dass diese industrielle Landwirtschaft das Potential hat, zu besseren Ergebnissen zu führen, als es im Freien je möglich wäre.

Denken wir weiter: Sowohl in der Gastronomie als auch in der heimischen Küche spielt das Erlebnis beim Zubereiten und Essen eine wichtige Rolle. Welcher dieser Bereiche wird aber die kommenden Jahre bestimmen? Oder kurz gesagt – Wer kocht in der Zukunft?

Das Zuhausekochen verliert eindeutig an Bedeutung. Statistiken aus den USA belegen sehr deutlich, dass die Ausgaben im „Außer-Haus“-Markt, zu dem auch Lieferservices gehören, wesentlich stärker wachsen als die für Lebensmittel aus dem Einzelhandel. Seit einigen Jahren hat die Gastronomie sogar die Führung übernommen. Damit muss sich WMF, vor allem im Consumer-Bereich, intensiv auseinandersetzen. Auch der Zeitaufwand beim Selberkochen geht im Schnitt stark zurück. Viele Menschen kochen nur noch ein- bis zweimal pro Woche und es wird wohl noch weniger werden. Global gesehen ist das eher ein Phänomen in Großstädten als auf dem Land, lässt sich aber in ganz unterschiedlichen Kulturen beobachten.

Wie verändert sich das Kochen zuhause und das Einkaufen für diejenigen, die es noch tun?

Wenn heute zuhause gekocht wird, hat sich das vielfach schon verändert gegenüber früher. Technische Innovationen wie Dampfgarer oder Food-Prozessoren ermöglichen es e, komplexe Gerichte ohne großen Aufwand zuzubereiten. Das stark veränderte Einkaufverhalten ist ebenfalls spannend. Es ist zu beobachten, wie der traditionelle Lebensmitteleinzelhandel zunehmend an Bedeutung abnimmt, im Gegenzug werden der Online-Einkauf auch für Lebensmittel immer relevanter. Im Hinblick auf genau abgestimmte Ernährungspläne, werden auch sogenannte „Meal-Kits“, also individuell zusammengestellte Lebensmittelpakete, eine immer größere Rolle spielen. Entscheidende Entwicklungen für die dafür benötigten Liefer- und Handelsformen kommen aber nicht aus der Lebensmittelindustrie selbst. Beim Thema Autonomes Fahren sind beispielsweise die eigentlichen Treiber IT-Konzerne wie Google. Unternehmen aus der Nahrungsmittelindustrie profitieren von diesen Zukunftstechnologien mehrfach. Einerseits können Lieferdienste auf diesem Weg hochgradig automatisiert werden, andererseits haben die Besitzer selbstfahrender Autos mehr Zeit, sich mit Rezeptvorschlägen oder Lieferangeboten auseinanderzusetzen.

Stehen auf dem „Außer-Haus“-Markt ähnlich große Umwälzungen an?

Durchaus, womöglich sogar noch größere. Neben klassischen Restaurants und der üblichen Lieferung nach Hause, entstehen auch völlig neue Gastronomiemodelle. „Picking Points“, an denen der Kunde seine Bestellung selbst abholen kann, sind bereits heute ein Thema, mit dem sich viele Unternehmen auseinandersetzen. Radikalere Ansätze wären etwa die Zubereitung im Lieferfahrzeug, während der Fahrt zum Kunden, vollautomatisiertes Kochen durch sogenannte „Robotic Chefs“, oder „Dark Kitchens“ – modulare Küchen, in denen ausschließlich für den Bestellservice gekocht wird. Auch die Frage nach der idealen Ernährung am Arbeitsplatz muss neu gestellt werden. Bei zunehmend flexiblen Arbeitszeit- und Arbeitsortmodellen entsteht ein Bedarf nach Alternativen für feste Kantinen mit Großküche. Mit allen diesen neuen Systemen und Veränderungen werden wir in Zukunft umgehen müssen.

Welche Bedeutung haben alle diese Entwicklungen für WMF?

Entscheidend ist: aufmerksam sein, zuhören, zusehen, mitbekommen was passiert. Niemand darf sich darauf verlassen, einfach so weitermachen zu können wie bisher. Was an technologischen und informationellen Veränderungen stattfindet, wird uns alle massiv beeinflussen. Wie das geschehen wird, ist schwer vorherzusagen. Aber die Disruption trifft auch uns. Es ist wichtig, dass wir unsere profitablen Nischen weiterhin kultivieren und sehen, was wir gut können. Gleichzeitig braucht es Mut, Experimente zu wagen und in neue Bereiche zu investieren.

Erschienen in Tophotel 8/2020
Boerner

Interview mit Cornelius Boerner

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